Qui la recensione, in tedesco, del settimanale svizzero Die Weltwoche, curata all'epoca da Walter De Gregorio, attuale capo comunicazione della Fifa.
http://www.weltwoche.ch/ausgaben/2010-14/artikel-2010-14-sport-verschollen-und-vermisst.html
Verschollen und vermisst
Der russische Fussballer Eduard Strelzow schaffte nach acht Jahren
Gulag ein Comeback. FCZ-Spieler Ludovic Magnin kam schon einen Tag nach
Ostern zurück.
Fast termingerecht
präsentiert der Italiener Marco Iaria nächste Woche ein Buch zum
zwanzigsten Todestag von Eduard Strelzow (er starb 1990 mit nur 53
Jahren), das sich liest wie ein Science-Fiction-Roman.* Das Buch gibt
Einblick in die alte Kommunistische Partei Russlands (KPdSU) zur Zeit
Chruschtschows. Zugleich hilft uns das Buch vermutlich ohne Absicht des
Autors –, das Phänomen Ludovic Magnin zu erklären: zwei Verschollene,
die zurückfinden in ihren Beruf.
Bei Strelzow, Jahrgang 1937, ging es ein bisschen
länger, bis er wieder Fuss fasste. Acht Jahre nachdem ihn die damalige
Parteispitze in den Gulag schickte, wurde er mit Torpedo Moskau wieder
Meister. Magnins Vermisstenanzeige konnte der FC Zürich bereits am
Ostermontag zurückziehen – nach nur wenigen Monaten Suche. Beim 3:2-Sieg
im Derby spielte Ludovic Magnin erstmals von Anfang an mit. (Gemäss
Match-Telegrammen stand er zwar schon oft in der Startformation, doch
niemand hat ihn gesehen.)
Wir wollen die historischen Fakten nicht verwässern
und falsche Vergleiche anstellen, drum sei gleich gesagt, dass Eduard
Strelzow ein hervorragender Fussballer war. Er war noch keine siebzehn
Jahre alt, als er sein erstes Tor schoss in der höchsten Liga – als
jüngster Torschütze der UdSSR. Mit achtzehn war er bereits
Torschützenkönig und debütierte in der Nationalmannschaft mit drei Toren
gegen Schweden. 1956 gewann er die Goldmedaille an den Olympischen
Spielen in Melbourne. Der sowjetische Geheimdienst KGB hatte ihn vor dem
Turnier bereits auf der schwarzen Liste: als vermeintlichen
Konterrevolutionär.
Gefährliche Freiheiten
Strelzow nahm sich Freiheiten heraus mit seinem
Lebensstil (Wodka, Frauen) und seinem politischen Ungehorsam (er
weigerte sich sowohl, für den Klub des KGB, Dynamo Moskau, als auch, für
jenen der Roten Armee, ZSKA Moskau, zu spielen); Freiheiten, die allein
dadurch gefährlich schienen, dass es Freiheiten waren. Die Avancen der
Tochter eines hohen Politbüro-Mitglieds umdribbelte er mit der
uncharmanten und politisch inkorrekten Bemerkung, sie gleiche «einem
Affen». Was die Sache vermutlich nicht erleichterte.
Nur dank Fürsprache des Trainers und der
Nationalmannschaftskollegen durfte Strelzow am Olympia-Turnier in
Melbourne mitmachen, den Final gegen Jugoslawien musste er auf Befehl
Chruschtschows aber sausenlassen. Danach ging es bergab mit dem «George
Best der Sowjetunion» – und zwar wörtlich.
Acht Jahre lang arbeitet Strelzow in Kohlegruben tief
unterm Berg, für die staatliche Industrie in Elektrostal schuftete er in
hochverseuchten Uranminen. Seine Krebserkrankung, vermutet Biograf
Marco Iaria, holte er sich in dieser Zeit. Wie Dokumente belegen, die
Jahrzehnte später, nach Gorbatschows Perestroika, zugänglich wurden,
hatte der KGB den besten (aber wohl nicht den schlausten) Fussballer,
den die Sowjets je hatten, auf fiese Art hintergangen.
Kurz vor der WM 1958 nämlich war Strelzow beschuldigt
worden, in eine Schlägerei verwickelt gewesen zu sein. Im Anschluss an
die Keilerei soll der «Sputnik des modernen Fussballs» sturzbetrunken
eine Frau vergewaltigt haben. Die Frau zog die Anzeige zwar zurück; die
Anklage war eine Erfindung des KGB, wie wir heute aus den Archiven
wissen. Doch Strelzow wurde zu zwölf Jahren Straflager verurteilt. Der
Staatssicherheitsdienst hatte ihm ein Papier zur Unterschrift vorgelegt.
Würde er unterschreiben, könne er mit der Nationalmannschaft an die WM
fahren, wurde ihm versichert. Strelzow unterschrieb ein falsches Papier,
das als Tatgeständnis galt.
Mit dem Sturz von Nikita Chruschtschow 1964 war der
Höllentrip von Strelzow vorbei. Der neue Mann am Schaltpult der Macht,
Leonid Breschnew, war ein Fussballfan und holte den genialen Spieler
zurück ins Stadion. Am 15. April 1965 gab Strelzow bei Torpedo Moskau
sein Comeback und trug mit zwölf Toren wesentlich zum Titelgewinn bei –
in seiner ersten Saison nach dem Gulag! 1970, mit 33 Jahren, gab er nach
einer Verletzung seinen Rücktritt und arbeitete jahrelang im Nachwuchs.
1997 wurde das Fussballstadion von Torpedo Moskau nach ihm benannt,
wenig später wurde vor dem Nationalstadion in Moskau eine Statue
eingeweiht, die ihn, mit dem Ball am magischen linken Fuss, verewigt.
«Es waren meine Mannschaftskollegen, die mir ein
zweites Leben geschenkt haben», sagte Strelzow kurz vor seinem Tod und
fügte, von politischer Altersmilde verschont, trotzig hinzu. «Es war
nicht Breschnew.» Womit wir wieder bei Magnin wären. Er wurde diesen
Winter von FCZ-Präsident Ancillo (ein rein dialektischer Vergleich mit
Leonid) wieder ins Stadion geholt, nachdem er in der Bundesliga
verschollen war. Magnins Auftrag: den dösenden FCZ wachzurütteln. Es kam
anders, wie das Derby am Tag nach Ostern zeigte, nämlich umgekehrt. Es
waren seine Mannschaftskollegen, die dem dösenden Magnin wieder Leben
einhauchten. Ja, er bewegte sich.